Für die Reisenden, die am 12. Juni 1817 von Mannheim nach Schwetzingen unterwegs waren, muss es ein ungewöhnlicher Anblick gewesen sein: das Gefährt, das der Erfinder Karl Drais an diesem Tag erstmals öffentlich vorführte. Auf einem Holzgestell, mehr stehend als sitzend, stieß sich der junge Mann mit seinen Beinen rhythmisch vom Boden der staubigen Chaussee ab und rollte an den staunenden Passanten vorbei. Obwohl an dem Gefährt nur zwei Räder hintereinander montiert waren, fiel das Fahrzeug nicht etwa um, sondern erreichte mit 15 Kilometern pro Stunde eine schier atemberaubende Geschwindigkeit – schneller als jeder Spaziergänger und jede Postkutsche.
Die Laufmaschine, die Karl Drais an jenem Tag vor 200 Jahren präsentierte, stellt im Rückblick eine mobile Revolution dar, vergleichbar mit dem ersten Automobil. Die einspurige Draisine, wie das Gefährt wenig später genannt wurde, nutzte erstmals das Zweiradprinzip und wurde damit zum Vorläufer unserer heutigen Fahrräder, Motorräder und Mofas. Eine Innovation, die Weltgeschichte schrieb.
Dabei war die Idee für das nur durch menschliche Körperkraft angetriebene Gefährt ursprünglich eine Notlösung – zumindest nach einer nicht ganz unumstrittenen Theorie von Historikern. Im April 1815 brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus – eine Mega-Eruption, deren Aschewolke bis nach Europa zog und dort monatelang den Himmel verdunkelte. Als „Jahr ohne Sommer“ mit Schneefall im Juli, Dauerregen und Ernteausfällen ging das Jahr 1816 in die Geschichte ein. Als Folge der Krise wurden Nahrungsmittel spürbar teurer. Auch der Preis für Hafer, dem Hauptenergielieferanten für Pferde, verdoppelte sich – und verteuerte die Warentransporte.
Eigentlich die besten Voraussetzungen für die pferdelose „Laufmaschine“ des Karlsruher Forstbeamten Karl Drais. Am 12. Januar 1818 erhielt sein Gefährt ein Großherzogliches Privileg, vergleichbar mit einem heutigen Patent. Trotzdem dauerte es fast ein Jahrhundert, bis die Erfindung zum Massenprodukt wurde: Nach mehreren Unfällen mit der schwer lenkbaren Draisine verboten manche Staaten die Benutzung auf Gehwegen, gleichzeitig trat die Eisenbahn ihren Siegeszug an. Drais’ Erfindung geriet bei der Masse in Vergessenheit.
Hoffnungsträger der neuen Mobilität
Der Durchbruch kam erst Ende des 19. Jahrhunderts. Innovationen wie der Pedalantrieb und der luftgefüllte Reifen machten das Fahrrad gebrauchstauglich. Für die wachsende Arbeiterschaft in den Städten wurde es zum perfekten Transportmittel. Das Zweirad entwickelte sich zu einer zentralen Säule im urbanen Massenverkehr, vor allem in Europa und in Asien. Erst die massenhafte Verbreitung von Autos und Motorrollern ließ die Fahrräder wieder weitgehend aus dem Stadtbild verschwinden.
Heute ist das Fahrrad vieles: Fortbewegungsmittel im Mobilitätsmix, Lifestyleprofukt, Hightechsportgerät, Warentransporter sowie Taxiersatz – und zunehmend auch Hoffnungsträger einer neuen Mobilität. Denn weltweit satteln Metropolen im wahrsten Sinne des Worts um. Ihr Signal: Das Zweirad soll 200 Jahre nach der ersten Fahrt wieder zu einem zentralen Bestandteil der urbanen Mobilität werden.
London etwa investiert bis 2025 eine Milliarde britischer Pfund in den Aufbau eines Fahrradschnellstraßennetzes. Es soll die Innenstadtstaus verringern und die Feinstaubbelastung mindern. Knapp 10.000 Kilometer weiter östlich verwaltet die chinesische Millionenstadt Hangzhou das größte Bikesharing-Programm der Welt – mit über 84.000 Fahrrädern an rund 3.500 Stationen. Selbst Mexiko-Stadt, geplagt von täglichen Megastaus, baut seine Fahrradinfrastruktur aus. Die Umweltreferentin der Stadt, Tanya Müller García, sagt: „Das Fahrrad spielt eine entscheidende Rolle darin, die Stadt nachhaltiger aufzustellen sowie Staus und Verschmutzung zu verringern.“
Hamburg, Sevilla, Singapur: Die Liste der Großstädte, die das Fahrrad im urbanen Mobilitätsmix stärken wollen, lässt sich beinahe beliebig fortsetzen. Fast überall spielt ein Begriff die zentrale Rolle: die „intermodale Mobilität“.