Professor Schrefler, Sie sagen, das Gewebe des menschlichen Körpers sei zu vergleichen mit Beton. Was meinen Sie damit?
Beim Beton wie beim Gewebe handelt es sich um poröse Strukturen – also um einen Festkörper mit Poren, in denen sich Gase und Flüssigkeiten bewegen. Das bedeutet: Man kann bestimmte Grundmodelle vom einen auf das andere Material übertragen. Lediglich die jeweiligen Austauschprozesse ändern sich.
Wie kommt man auf solch eine Übertragung?
Indem man über den Tellerrand der eigenen Disziplin blickt. Die Amerikaner nennen dies „Out-of-the-box-thinking”. 2010, als ich in Austin/Texas an der Universität arbeitete, zeigten mir Kollegen der medizinischen Fakultät ein neues Modell für Prostatatumore. Da habe ich gesagt: Die Gleichungen eures Modells löse ich seit 20 Jahren.
Was ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?
Heureka! Das ist es! Sofort wusste ich, dass mich mein Weg ab jetzt auch in die Medizin führen würde. Kurz darauf fuhr ich nach Houston und habe mich dem Leiter des Houston Methodist Research Institutes vorgestellt – und ihm versprochen, seine Forschung zu verbessern. Er hat mir geglaubt und mich angeheuert.

Seitdem erforschen Sie, inwieweit sich das Verhalten von fließenden Stoffen in der Physik auf das Fließverhalten von Wirkstoffen in der Krebsbekämpfung übertragen lässt.
Entscheidend für eine erfolgreiche Therapie ist unter anderem, dass die Medikamente genau dort ankommen, wo sie wirken sollen. In meinem Projekt arbeite ich eng mit Professor Wolfgang Wall vom Lehrstuhl für Numerische Mechanik der Technischen Universität München zusammen. Der Kollege erstellt aktuell ein Modell, um die Strömungen in Blutgefäßen, die Biodistribution, präziser als bisher vorhersagen zu können. Mithilfe eines solchen Generalmodells kann dann berechnet werden, wie ein Wirkstoff sich im Körper verteilt.
Und dieses Grundmodell wird dann mit Ihren Ergebnissen verknüpft?
Genau, da kommt dann sozusagen der Beton dazu. Dessen Fließverhalten kennen wir sehr gut. Wir versuchen so zu simulieren, wie viel von einem Wirkstoff tatsächlich am Ende bei einem Tumor ankommt und wie viel beispielsweise durch das Immunsystem oder im Nahbereich des Tumors durch Diffusion verloren geht. Das ist der Schritt, der Maschinenbaumechanik und Medizin verbindet – ein Schritt in die Zukunft.
Sie werden in wenigen Monaten ihren 75. Geburtstag feiern. Was macht für Sie den Reiz aus, mit Grundlagenforschung Neuland zu betreten – in einem Alter, in dem die meisten Menschen sich längst zur Ruhe gesetzt haben.
Gerade weil ich älter werde, freut es mich sehr, wenn ich etwas im Sinne der Menschen vorantreiben kann. Abgesehen davon ist es immer noch etwas Tolles, ein Anwendungsgebiet so zu erforschen, wie es vorher nicht möglich war.
Sie forschen eigentlich an der Universität von Padua in Italien, sind aber aktuell auch an der TU in München. Den Aufenthalt im Rahmen der Hans Fischer Senior Fellowship ermöglicht Ihnen die TÜV SÜD Stiftung. Was bedeutet Ihnen dieser Gastaufenthalt?
Die Förderung durch die TÜV SÜD Stiftung gibt mir die Freiheit, weiterforschen zu können. Wie ich sagte: Man muss über den eigenen Tellerrand sehen, neue, junge Menschen kennenlernen, neue Einflüsse haben – das bietet mir diese Fellowship. Außerdem kann ich vielen interessanten und wichtigen Kongressen beiwohnen. Alle diese Sachen machen es einfacher für mich und unterstützen mich sehr. Ich genieße es, pro Jahr drei Monate in München zu sein. Der Austausch bringt die Kollegen hier sicherlich genauso voran wie meine Universität in Italien.