Wenn Camilla Wieck im Wald spazieren gehen möchte, macht die Wiesbadenerin es sich in ihrem Wohnzimmer gemütlich. Sie setzt eine Virtual-Reality-Brille (VR-Brille) auf und entflieht in die Natur. Wo sie auch hinschaut, ist sie dann von Bäumen umgeben. Grüne Blätter wehen im Wind, Schatten tanzen auf dem Waldboden auf und ab. Eigentlich sitzt Wieck wegen einer Muskelerkrankung im Rollstuhl und kann nur schwer spontane Ausflüge machen.
Wenn Mikhail Dubovtsev in Minsk seine motorischen Fähigkeiten trainieren will, spielt er ein Spiel in der virtuellen Welt. Dafür trägt der Sechsjährige eine VR-Brille und einen Sensor am Arm. Der Sensor verfolgt, wie Mikhail sein Handgelenk dreht, und ahmt die Bewegung in VR nach. Mit jeder Drehung dreht sich im Spiel ein virtueller Arm, mit dem Mikhail einen Ball von links nach rechts schwingt und in Kreise trifft. In Weißrussland und Großbritannien üben Patienten mit angeborener Kinderlähmung durch Physiotherapie mit VR, ihre Arme kontrolliert zu bewegen.
Wenn Josephine Schipke in ihrer Ausbildung lernen soll, wie Druckprozesse funktionieren, kann die angehende Mediengestalterin eine virtuelle Druckerei besuchen. Die VR-Lerninhalte für Menschen mit Behinderungen modifiziert ein Team am Oberlin Berufsbildungswerk in Potsdam. Schipke, die aufgrund von Gelenkversteifungen einen Rollstuhl nutzt, testet in ihrer Ausbildung die VR-Module, um sie für Menschen mit körperlichen Einschränkungen zugänglich zu machen.
Mit Virtual Reality können Anwender in eine virtuelle Welt eintauchen. Das funktioniert mithilfe spezieller Software und einer VR-Brille. Sie ist mit hochauflösenden Displays und Head-Tracking-Sensorik ausgestattet. Jede Bewegung wird so in die virtuelle Welt transportiert und erzeugt beim Anwender ein immersives Erlebnis – das Gefühl, sich vollständig in der virtuellen Welt zu befinden.
Virtual Reality galt einmal als Technologie der Zukunft und sollte das Leben und Arbeiten grundlegend verändern. Mit dem unreifen Prototyp einer VR-Brille versetzte der damals erst 20-jährige Palmer Luckey die Technologiewelt in Begeisterung. Der Grund: Mit Luckeys Entwurf war die VR-Brille erstmals kostengünstig herstellbar. Als das erste Modell vier Jahre später marktreif war, überboten Experten sich mit Erfolgsprognosen. Modebegeisterte sollten schon bald Kleidung per VR anprobieren, Urlauber ihr Reiseziel vorab besichtigen, Musikliebhaber Konzerte virtuell besuchen. VR war „the next big thing“, das nächste große Ding. Doch der große Durchbruch blieb aus, die Euphorie verflog. 2019 besaßen gerade einmal drei Prozent der Deutschen eine eigene VR-Brille. Wer jedoch erleben will, wo die Technologie schon heute ihren Mehrwert unter Beweis stellt, muss nach Wiesbaden, Minsk und Potsdam.
HOFFNUNG FÜR PATIENTEN MIT KINDERLÄHMUNG
Langsam dreht Mikhail Dubovtsev sein rechtes Handgelenk. Von links nach rechts und wieder zurück. Der Sechsjährige trägt eine VR-Brille, die den Großteil seines Gesichts verdeckt, und einen Sensor am Arm. Der Sensor überträgt jede von Mikhails Bewegungen in die virtuelle Welt. Wie auf dem Jahrmarkt muss Mikhail mit einem Ball in verschiedene Ringe treffen. Doch statt zu werfen, bewegt er den virtuellen Ball, indem er sein Handgelenk dreht. Für jeden Treffer bekommt er Punkte. „Den Highscore von 1.000 Punkten habe ich gleich am Anfang geschafft“, erzählt Mikhail stolz.